§ 84

📖 Zum Gesetz

  1. Wird infolge der Anwendung eines zum Gebrauch bei Menschen bestimmten Arzneimittels, das im Geltungsbereich dieses Gesetzes an den Verbraucher abgegeben wurde und der Pflicht zur Zulassung unterliegt oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung befreit worden ist, ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen nicht unerheblich verletzt, so ist der pharmazeutische Unternehmer, der das Arzneimittel im Geltungsbereich dieses Gesetzes in den Verkehr gebracht hat, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen. Die Ersatzpflicht besteht nur, wenn
  1. das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen oder
  2. der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten ist.
  1. Ist das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet, den Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist. Die Eignung im Einzelfall beurteilt sich nach der Zusammensetzung und der Dosierung des angewendeten Arzneimittels, nach der Art und Dauer seiner bestimmungsgemäßen Anwendung, nach dem zeitlichen Zusammenhang mit dem Schadenseintritt, nach dem Schadensbild und dem gesundheitlichen Zustand des Geschädigten im Zeitpunkt der Anwendung sowie allen sonstigen Gegebenheiten, die im Einzelfall für oder gegen die Schadensverursachung sprechen. Die Vermutung gilt nicht, wenn ein anderer Umstand nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen. Ein anderer Umstand liegt nicht in der Anwendung weiterer Arzneimittel, die nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet sind, den Schaden zu verursachen, es sei denn, dass wegen der Anwendung dieser Arzneimittel Ansprüche nach dieser Vorschrift aus anderen Gründen als der fehlenden Ursächlichkeit für den Schaden nicht gegeben sind.

  2. Die Ersatzpflicht des pharmazeutischen Unternehmers nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 ist ausgeschlossen, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass die schädlichen Wirkungen des Arzneimittels ihre Ursache nicht im Bereich der Entwicklung und Herstellung haben.

Überblick: Gefährdungshaftung für Arzneimittelschäden

§ 84 AMG regelt die Haftung des pharmazeutischen Unternehmers für Schäden, die durch die Anwendung von Arzneimitteln entstehen. Im Zentrum steht die sogenannte Gefährdungshaftung, das heißt: Es geht nicht um Verschulden, sondern allein um die Tatsache des Schadenseintritts und bestimmte rechtliche Voraussetzungen.

Wann haftet der pharmazeutische Unternehmer?

Die Ersatzpflicht entsteht, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Ein zum menschlichen Gebrauch bestimmtes, zugelassenes oder von der Zulassung befreites Arzneimittel wurde an den Verbraucher abgegeben.
  • Durch die bestimmungsgemäße Anwendung dieses Arzneimittels kommt es zu Tod, erheblicher Körperverletzung oder Gesundheitsschäden.

Dabei müssen laut Gesetz zwei Alternativen (Abs. 1) geprüft werden:

  1. Unerwartete Nebenwirkungen:

    das Arzneimittel [hat] bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen

    Es geht um Nebenwirkungen, die im Vergleich zum aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr akzeptabel sind.

  2. Fehlerhafte Kennzeichnung oder Informationen:

    der Schaden [ist] infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten

    Hier haftet der Unternehmer, wenn die bereitgestellten Informationen (z.B. Beipackzettel) nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechen und es dadurch zu einem Schaden kommt.

TipZentral: Gefährdungshaftung bedeutet verschuldensunabhängige Haftung

Der Unternehmer haftet auch ohne eigenes Verschulden – allein das Inverkehrbringen und die Erfüllung obiger Voraussetzungen reichen aus.

Beweislast und Beweiserleichterung

Das Gesetz sorgt bewusst für eine erleichterte Beweisführung zugunsten der Geschädigten.

Ist das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet, den Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist.

Dies bedeutet: Wer durch ein Arzneimittel geschädigt wurde, muss im Streitfall nicht beweisen, dass genau dieses Arzneimittel den Schaden verursacht hat. Es genügt, dass das Arzneimittel dazu “geeignet” ist.

Entscheidend sind:

  • Zusammensetzung und Dosierung
  • Art und Dauer der Anwendung
  • Zeitlicher Zusammenhang zwischen Anwendung und Schaden
  • Schadensbild sowie Gesundheitszustand der betroffenen Person

Nur wenn ein „anderer Umstand“ (z.B. Unfall, Erkrankung) gleichermaßen geeignet ist, den Schaden zu erklären, greift diese Vermutung nicht.

Ausschluss der Haftung

Die Ersatzpflicht besteht nicht,

wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass die schädlichen Wirkungen des Arzneimittels ihre Ursache nicht im Bereich der Entwicklung und Herstellung haben.

Das heißt: Ist nachweislich nicht das Produkt selbst fehlerhaft (sondern z.B. ein Anwendungsfehler vorlag oder eine externe Ursache gegeben ist), haftet der Pharmaunternehmer nicht.

Übersicht: Der Weg zur Haftung

Schritt Was muss vorliegen? Folge
1. Anwendung und Schaden Anwendung eines zugelassenen (oder befreiten) Arzneimittels, erheblicher Schaden Potenzielle Haftung des Unternehmens
2. Prüfpunkte (Abs. 1) a) Unerwartete Nebenwirkung oder
b) Fehlerhafte/inkorrekte Information
Ersatzpflicht entsteht
3. Beweiserleichterung (Abs. 2) Arzneimittel ist nach Einzelfall zur Verursachung geeignet (Vermutung greift) Schadensursache wird angenommen
4. Ausschluss (Abs. 3) Ursache liegt nicht in Entwicklung/Herstellung Keine Haftung

Zusammenfassung

§ 84 AMG schützt die Patientensicherheit, indem er eine besondere Verantwortlichkeit für den pharmazeutischen Unternehmer schafft. Erfasst sind schwerwiegende Schäden durch zugelassene Arzneimittel, auch bei Einhaltung aller Vorschriften. Besonders praxisrelevant ist die zugunsten der Geschädigten eingeführte Beweiserleichterung („Eignung“ wird vermutet), die es auch ohne exakten Ursachenbeweis ermöglicht, berechtigte Ansprüche geltend zu machen. Die Haftung entfällt jedoch, wenn die Ursache sicher außerhalb der Produktion und Entwicklung liegt.

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